Wir sind weitgehend blind für unsere Umgebung
Die Augen sind das Fenster zum Gehirn. Das Sehen ist zweifellos unser dominanter Sinn: Es prägt, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, wie wir lernen und wie wir mit der Welt interagieren. So ist es nicht verwunderlich, dass fast ein Drittel des Neokortex, des stammesgeschichtlich jüngsten Teils des Gehirns, dem Sehen gewidmet ist. Das bedeutet: Wenn wir die Geheimnisse des Gehirns entschlüsseln wollen, müssen wir das Sehen verstehen.
Abermillionen Zapfen und Stäbchen in unserer Netzhaut empfangen ständig Licht unterschiedlicher Intensitäten und Wellenlängen. Wie bewältigen wir diese Informationsflut und erkennen in ihr Quadrate, Äpfel, sogar bekannte Gesichter? Die Verarbeitung der optischen Reize beginnt bereits im Auge: Neuronen in der Netzhaut reagieren auf einfache Bildmerkmale; einige von ihnen springen zum Beispiel auf helle, andere auf dunkle Punkte an.
Aber natürlich muss das Gehirn die Hauptleistung bei der Verarbeitung erbringen. Alles, was die Augen ans Gehirn melden, kommt dort zuerst im sogenannten primären visuellen Kortex (kurz V1) an. Die Neuronen dort können etwas komplexere Bildmerkmale wie Balken erkennen. Dies wissen wir dank David Hubel und Torsten Wiesel, deren bahnbrechende Arbeit in den 1960er Jahren die Sehforschung revolutionierte und ihnen einige Jahre später sogar den Nobelpreis bescherte.
Hat die Sehforschung den springenden Punkt übersehen?
Doch was passiert dann mit den visuellen Informationen? Der primäre visuelle Kortex leitet sie an höhere visuelle Zentren weiter. Man könnte erwarten, dass die Neuronen dort noch komplexere Merkmale wie Bögen, Dreiecke, vielleicht sogar Gesichter erkennen können. Doch trotz intensiver Sehforschung in den letzten Jahrzenten konnte nichts dergleichen nachgewiesen werden. Wieso ist die Erforschung des Sehens jenseits des primären visuellen Kortex so schwierig?
Zhaoping Li, Leiterin der Abteilung Sensorische und sensomotorische Systeme, ist überzeugt, dass die Sehforschung den springenden Punkt übersehen hat: Wir nehmen nur das wahr, worauf unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist. Für mehr als 99 Prozent aller Informationen sind wir blind! Das ist unvermeidlich, weil unser Gehirn begrenzt ist. Indem wir unseren Blick lenken, wählen wir einen winzigen Bruchteil der eingehenden Informationen für eine tiefere und aufmerksamere Verarbeitung aus.
In anderen Worten: Um zu sehen, müssen wir erst schauen! Doch wie entscheidet unser Gehirn, was unsere Aufmerksamkeit verdient? Vor mehr als 20 Jahren stellte Zhaoping Li die V1-Salienz-Hypothese auf: Der primäre visuelle Kortex erstellt eine Karte, auf der hervorstechende Bildmerkmale verzeichnet sind und an der sich die Blickrichtung orientiert. Wenn er beispielsweise einen roten Apfel in einem Korb voller grüner Birnen als auffälliges Objekt markiert, zieht der Apfel automatisch unseren Blick und unsere Aufmerksamkeit auf sich. Die unwichtigeren Bildmerkmale – in diesem Fall die Birnen – werden herausgefiltert und erreichen gar nicht erst die höheren Gehirnareale.
Wieso wir so leicht auf optische Täuschungen hereinfallen
Das hat Folgen: Wir sind anfällig für optische Täuschungen. Üblicherweise treten sie dort auf, wo wir nicht hinschauen: im peripheren Sichtfeld. Denn das Gehirn deutet die spärlichen Informationen aus diesem Bereich selbständig, zum Beispiel als rote Rose oder als roten Apfel. Für diese Interpretation benutzt es seine Erfahrung.
Heißt das also, dass wir nichts wirklich sehen, sondern lediglich vom Gehirn erzeugte Illusionen wahrnehmen? Zum Glück ist das nicht der Fall! Wenn wir den Apfel direkt anschauen, melden die höheren Sehareale an den primären visuellen Kortex zurück, dass sie mehr Informationen brauchen, Sie kontrollieren, dass ihre Interpretation tatsächlich mit den Rohdaten übereinstimmt. Erst dann sehen wir den Apfel tatsächlich!