Von der Kybernetik zur KI: die bahnbrechende Arbeit von Norbert Wiener

Der Mann, der die Kybernetik begründete, legte auch wichtige Grundsteine für den Erfolg der Künstlichen Intelligenz

5. April 2024

Der am 26. November 1894 geborene Wiener war ein Wunderkind. Er schloss mit elf Jahren die Highschool ab und erwarb mit 14 Jahren einen Bachelor in Mathematik an der heutigen Tufts University in Massachusetts. Mit 18 Jahren promovierte Wiener an der Harvard University in mathematischer Logik.

Er arbeitete zunächst als Lexikon-Autor, Ingenieur-Lehrling und in einigen anderen Jobs, bevor er 1919 ans Massachusetts Institute of Technology (MIT) ging, wo er bahnbrechende Beiträge zum Verständnis stochastischer Prozesse leistete. Insbesondere entwickelte Wiener erste Modelle zur Quantifizierung der Brownschen Bewegung – den unregelmäßigen Positionsänderungen von Teilchen in Flüssigkeit. Er wurde dafür später für den Nobelpreis nominiert.

Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wandte sich Wiener einem neuen Problem zu: die Trefferquote von Flugabwehrkanonen auf feindliche Bomber zu erhöhen. Wiener entwickelte eine Methode, um auf Basis der vergangenen Positionen eines Flugzeugs vorherzusagen, wohin es flog.

Zwar waren die Computer damals nicht schnell genug, um solche Kalkulationen auszuführen. Doch Wiener etablierte ein Prinzip, das generell wichtig werden würde: dass man das künftige Verhalten eines komplexen Systems statistisch aus vergangenem Verhalten ermitteln kann.

Frühe Beiträge zur Informatik und Künstlichen Intellligenz

Seine bahnbrechende Erkenntnis war, dass viele komplexe Systeme auf informationsbasierten Rückkoppelungsprozessen beruhen. Anders gesagt: Die Information in ihnen fließt nicht linear, also nicht allein von einem Sender zu je einem Empfänger. Vielmehr bildet die Kommunikation oft eine Schleife. Ein Thermostat misst die Raumtemperatur, vergleicht sie mit der Solltemperatur und aktiviert die Heizung. Wird der Raum dann wärmer, löscht dies die Aktivierung und die Heizung schaltet sich ab. Und so fort. Ein System wird "intelligent", wenn es sich Erfahrungen aus der Vergangenheit merken und darüber die eigene Performance verbessern kann.

Aus dieser Erkenntnis erwuchs das Feld der Kybernetik.

Auch im Gehirn sind Rückkopplungsschleifen am Werk, bemerkte Wiener. Neuronen verarbeiten Sinnesreize (der Fuß landet auf losem Kies), lösen Prozesse aus (die Muskeln im Bein spannen sich an, um das Gleichgewicht zu halten) und überwachen wie gut das funktioniert. Durch das Stärken von Verbindungen zwischen individuellen Neuronen kann das Gehirn vergangene Erfahrungen für die Zukunft speichern. Diese Erkenntnisse sind heute Teil der theoretischen Grundlagen, auf denen die neuronalen Netzwerke für Deep Learning und Künstliche Intelligenz aufbauen.

Intelligente Systeme optimieren sich selbst

Wiener wurde so berühmt, dass selbst Nicht-Wissenschaftler seine Bücher lasen, darunter das 1948 erschienene "Kybernetik – Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine". Darin spekuliert Wiener sogar über Maschinen der Zukunft, die sich über elektronische Schaltkreise selber replizieren und an neue Erfahrungen anpassen, ähnlich wie lebende Organismen.

Seine Prominenz half Forscher wie Warren Sturgis McCulloch und Walter Pitts ans MIT zu holen, wo sie bahnbrechende Beiträge zur Informatik und Künstlichen Intelligenz leisteten. 1963 erhielt Wiener die Nationale Medaille der Wissenschaft, die höchste Forscher-Auszeichnung der USA.

Wiener sah auch Gefahren in der KI. Er prophezeite, dass die Automatisierung viele Arbeitsplätze kosten und soziale Spannungen erzeugen würde. Und er warnte, dass intelligente Maschinen Entscheidungen treffen würden, die für die Menschen nicht immer nachvollziehbar – oder wünschenswert – sein würden. Deshalb sollte der KI nur bedingt Kontrolle übertragen werden, riet Wiener: „Gefahr droht der Gesellschaft nicht von der Maschine, sondern von dem, was der Mensch aus ihr macht.“

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